Wahrheiten und Mehrheiten

Ob Klima-, Umwelt- oder Gesundheitskrise: Die Machtworte der Wissenschaft verheißen – so argumentieren viele Politiker und Journalisten – Abhilfe. Tatsächlich aber verbündet sich hier naive Wissenschaftsgläubigkeit mit einem tendenziell undemokratischen Machtanspruch. Jakob Hayner stellt das Buch Wahrheiten und Mehrheiten von Peter Strohschneider vor, in dem der heute so verbreitete Szientismus unter die Lupe genommen wird: 

Mit klarer Argumentation und nüchterner Analyse nimmt Strohschneider auf knapp 200 Seiten einige der Irrtümer über Wissenschaft und Politik auseinander, die in den vergangenen Jahren geradezu endemisch geworden sind. Der 1955 geborene Strohschneider ist zwar von Beruf Literaturwissenschaftler, war aber auch langjähriger Vorsitzender des Wissenschaftsrats und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, zudem Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Kurz: Hier spricht ein Mensch der Wissenschaft aus intimer Kenntnis der Sache.

„Wahrheiten und Mehrheiten. Zur Kritik des autoritären Szientismus“ heißt das Buch von Strohschneider. Szientistisch, in Abgrenzung zu szientifisch (schwer einzudeutschen: wissenschaftistisch statt wissenschaftlich), nennt Strohschneider die „Follow the Science“-Pose, die allein „die Fakten“, aber keinerlei Erkenntnis- und sonstige Wissenschaftsprobleme kennt, sondern ausschließlich einen alternativlos wirkenden Handlungsdruck aufbaut. Zu finden ist das bei Gruppierungen wie „Scientists for Future“ oder bei Leuten, die es wie der SPD-Politiker Karl Lauterbach vom Twitter-Troll zum Minister gebracht haben.

Ein Zitat aus dem Buch (Wahrheiten und Mehrheiten: Kritik des autoritären Szientismus, 2004, S. 135–136):

So „sorgt die Rhetorik des Notstands für despotische Verhältnisse,“ und dieser Schritt lässt sich nicht nur in politischen Stellungnahmen wie denjenigen der Jugendklimabewegung oder von Karl Lauterbach verfolgen, sondern auch an gesellschaftstheoretisch erheblich ambitionierteren Beispielen. So hat etwa der Soziologe Anthony Giddens, in den neunziger Jahren einer der intellektuellen Väter des britischen New Labour-Projektes, schon vor über einer Dekade in seinem Buch The Politics of Climate Change durchbuchstabiert, wie manifestes Politikversagen behoben werden könne, indem man diese Politics um alles Politische programmatisch bereinige. Es müsse „der scharfe Gegensatz von Links und Rechts sowohl ideologisch als auch in der parteipolitischen Praxis überwunden werden […].“ Denn tatsächlich bestehe längst kein sachlicher Dissens mehr über das, was bei der Bekämpfung des Klimawandels ‹eigentlich› erforderlich sei. Vielmehr seien es allein politische Gegnerschaften, welche die richtigen Entscheidungen behinderten. Und gegen diese Blockaden durch das Politische empfahl Giddens nun einen parteiübergreifenden monitoring body. Dieser sollte die Verfolgung von Klimaschutzzielen nicht bloß überwachen, sondern gegebenenfalls auch selbst direkt in die entsprechende Gesetzgebung eingreifen. Unüberhörbar ist, dass dieser klimapolitische Herrschaftsentwurf bis in jene Vorstellungen des bundesrepublikanischen Gesundheitsministers hinein nachhallt, nach welchen Politik durch Szientifizierung ertüchtigt werden soll.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

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Die Polemik gegen Calvin

Heinz Langhoff schreibt über die Polemik gegen Calvin („Der verkannte Calvin“, in: Joachim Rogge (Hg.), Johannes Calvin, 1963, S. 51):

Das vorige Jahrhundert mit seinem allzu leichtfertigen, zivilisationsfreudigen Optimismus sah auf Grund all der vielen überkommenen Verzeichnungen in Calvin ebenfalls den finsteren, diktatorischen Wüterich gegen Menschenrecht und Freiheit. Bezeichnend dafür ist das Werk des liberalen J. B. Galiffe aus Genf, von dem Ernst Pfisterer schreibt: „Wo man an Hand der … Akten und Urkunden ihn kontrollieren kann, immer ergibt sich dasselbe Bild: entweder er zitiert sie falsch, oder er unterschlägt sie völlig, wenn sie ihm nicht passen, oder er legt völlig sinnwidrig aus; oder er phautasiert Tatsachen hinzu! Nur in einem Stück bleibt er sich treu: alles, aber restlos alles, was er erzählt, verzerrt und verdunkelt das Bild Calvins.“

Auf Galiffes Darstellungen fußt, obwohl sie inzwischen widerlegt waren, die Arbeit des Katholiken Kampschulte, der „Calvin nicht verstanden und nicht geliebt“ hat (Stickelberger). Sie wird grundlegend für das Urteil mancher Wissenschaftler, auch auf evangelischer Seite. Wir müssen heute mit Bedauern feststellen, daß sich durch diese geschickte und eingängige Arbeit mehr als eine Generation von katholischen wie evangelischen Pfarrern und Religionslehrern aufs Ganze gesehen vom Studium der Quellen abhalten und am wirklichen Calvin vorbeiführen ließ. So kommt es, daß die vorhin erwähnte „accusativus“-Legende sogar in ein wissenschaftlich anerkanntes Werk wie die Realencyklopädie durch den Artikel R. Stähelins eingeschleppt wurde. Darüber hinaus widerfährt es Calvin bis auf den heutigen Tag, daß die Entstellungen seiner schärfsten Gegner sogar von denen für bare Münze genommen und weiterverbreitet werden, denen nicht zuletzt durch sein Wirken das Evangelium wiedergewonnen und erhalten geblieben ist. Im Begleittext eines vom Reformierten Rat für Presse- und Publikationsangelegenheiten in Holland herausgegebenen Bildstreifens steht u.a. die ungeheuerliche Behauptung, Calvin habe ein Mädchen enthaupten lassen, das seine Eltern geschlagen habe.

Die große Umkehrung

Tim Keller schreibt über die Erlösung (Hoffnung in Zeiten der Angst, 2022, S. 128): 

Wenn Jesus uns dazu auffordert, unser Kreuz auf uns zu nehmen und ihm nachzufolgen (Matthäus 16,24), bedeutet das: Um durch die große Umkehrung gerettet und verändert zu werden, müssen wir durch unsere eigene „Umkehrung“ gehen. So wie Jesus unsere Erlösung nicht durch das Ausüben seiner Macht bewirkte, sondern durch die freiwillige Aufgabe von Macht, so erlangen wir diese Erlösung nicht dadurch, dass wir all unsere Kraft zusammennehmen, um moralisch perfekt zu werden, sondern indem wir unsere totale Schwäche, Hilflosigkeit und Bedürftigkeit eingestehen. Und so wie bei Jesus Schwachheit und Schande der einzige Weg zu wahrer Kraft und Herrlichkeit war, so ist bei uns die Reue über unsere Schuld und Sünde der einzige Weg zu größter Zuversicht und Ehre – zu dem Wissen, dass wir in Christus von dem Herrn des Universums angenommen und geliebt sind.

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ARD und ZDF werben fürs Gendern

Die Bevölkerungsmehrheit ist gegen das Gendern. Im ÖRR gewinnt die geschlechtergerechte Sprache trotzdem die Oberhand. Drei Jahre haben Fabian Payr und Stefan Beher  untersucht, mit welchen Methoden die Sender für Varianten der vermeintlich gendergerechten Sprache werben. Gern beruft man sich auf DIE Wissenschaft. Besonders auffällig ist, wie Kinder indoktriniert werden. 

Zitat aus der WELT: 

Die Unausgewogenheit in der Darstellung „gendersensibler Sprache“ manifestiert sich in den Sendungen auf unterschiedlichen Ebenen: 1) Gender-Befürworter erhalten in vielen Sendungen einen deutlich größeren Redeanteil als Genderkritiker. 2) Die konsultierten Experten stammen schwerpunktmäßig aus dem Lager der Befürworter. 3) Wird auf Forschung Bezug genommen, so vorrangig aus den Bereichen der Psycho- oder Genderlinguistik. 4) Die Auswahl der Gesprächspartner bildet die Positionen in der kontroversen Debatte und deren Zustimmungsraten in der Bevölkerung nicht ab. 5) Oft wird die Pro-Position in aller Breite dargestellt, die Kontra-Argumente erhalten hingegen nur wenig Raum. Nicht selten wird auf diese auch ganz verzichtet, nicht zuletzt in den satirischen Formaten der Sender (z.B. „Die Anstalt“, „Heute Show“). Dort werden Genderkritiker mit nur wenigen Ausnahmen als reaktionär, rückständig, schrullig oder frauenfeindlich dargestellt.

Diese wenig schmeichelhafte Charakterisierung von Genderskeptikern wird aber auch in anderen Formaten durch geschicktes Framing erreicht, etwa in der 3sat-Doku „Krieg der Sternchen“ (Oktober 2022), in der die Bandbreite aller säuberlich aufgelisteten Genderkritiker bis hin zu AfD und Wladimir Putin reicht – ein Club, in den wohl die weitaus meisten Genderskeptiker nicht aufgenommen werden möchten.

Zur Klarstellung: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk lässt durchaus auch Kritiker des Genderns zu Wort kommen. Im Vergleich zu den vielen Stimmen aus dem Pro-Lager, in die sich gerne auch Moderatoren einreihen, sind diese jedoch deutlich in der Minderheit – und das, obwohl eine Mehrheit der Bevölkerung diesen Sprachgebrauch ablehnt und diese Ablehnung auch nachvollziehbar begründen kann. 

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Wie die Luft die wir atmen

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Glen Scrivener möchte uns in seinem Buch Wie die Luft, die wir atmen „die Augen dafür öffnen, dass das, was wir in unserer Welt erleben, die fortdauernden Nachbeben der Jesus-Revolution sind“ (S. 16). Dabei ist es nicht nur sein Anspruch, gläubige Christen in zehn kurzen Kapiteln auf nur 256 Seiten von dieser These zu überzeugen und ihnen Mut zu machen, „ihren Weg weiterzugeben“ (S. 16). Vielmehr möchte er gerade der Gruppe der unreligiösen Menschen zeigen, was das Evangelium bedeutet.

Lukas Meier hat das Buch gelesen und schreibt: 

Eins ist sicher: Langweilig wird dieses Buch nie. Es erinnert an eine Netflix-Serie mit dramatischen Szenen, starken Kontrasten, verwegenen Charakteren und schnellen Schnitten. Nirgendwo verweilt der Blick länger. Rastlos schweift das Auge über ganze Jahrhunderte hin und nimmt nur grobe Konturen wahr. Man bleibt stets aufmerksam, erwartet gespannt die nächste Wendung, den nächsten Einfall, den nächsten Akteur auf der Bühne.

Die Argumentation ist mutig, bisweilen gewagt. Nachweise für die aufgestellten Behauptungen fehlen weitgehend. Natürlich könnte und müsste man alles viel differenzierter sagen – darauf weist der Autor zu Beginn des Buches auch gleich selbst hin. Scrivener führt keinen wissenschaftlichen Beweisgang. Er erzählt eine Geschichte, die mitreißt, die zur Identifikation einlädt, die nicht zuletzt auch unterhalten soll. Und das tut sie, auch dank der gelungenen Übersetzung, die dem Tempo und der Dramatik des Buches gerecht wird.

Am Ende klappt man die Buchdeckel zu und ist ermutigt, denn bei der Lektüre wird einem wieder ganz neu klar: Der christliche Glaube ist ein einzigartiges und wundervolles Geschenk Gottes, das nicht nur unsere westliche Zivilisation, sondern auch das Leben von Millionen Menschen unendlich viel besser, freier und leichter gemacht hat. Es lohnt sich, an diesem Glauben festzuhalten, wohin auch immer unsere Gesellschaft sich weiterentwickeln mag.

Mehr: www.evangelium21.net.

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Bluttest auf Gendefekte liefert falsche Ergebnisse

Krankenkassen bezahlen vorgeburtliche Bluttests auf Trisomie. Viele Schwangere nutzen ihn anders als geplant. Gerade bei jungen Frauen liefern sie falsche Resultate – was zu vielen Schwangerschaftsabbrüchen führt. Bei einer 25-jährigen Schwangeren etwa liegt die Wahrscheinlichkeit für ein falsch-positives Ergebnis bei 49 Prozent, schreibt Sabine Menkens DIE WELT:

Das Problem dabei: Der Test liefert keine Diagnose, sondern lediglich eine Wahrscheinlichkeit für eine Chromosomen-Anomalie. Während die Negativergebnisse ziemlich zuverlässig sind, zeigt der Test vor allem bei jüngeren Frauen, bei denen das Trisomie-Risiko gering ist, häufig sogenannte falsch-positive Ergebnisse an. Bei einer 25-jährigen Schwangeren etwa liegt die Wahrscheinlichkeit für ein falsch-positives Ergebnis bei 49 Prozent – verbunden mit der echten Gefahr, dass Frauen womöglich panikartig eine Abtreibung vornehmen lassen, ohne die nötige diagnostische Abklärung abzuwarten.

„Der Test verspricht etwas, was er null einhalten kann“, sagt Rüffer. „Wir brauchen dringend ein umfassendes Monitoring zu den Folgen der Kassenzulassung und die Einsetzung eines Expertengremiums, das sich mit den rechtlichen, ethischen und gesundheitspolitischen Grundlagen der NIPT-Kassenzulassung befasst.“ Einen entsprechenden Antrag hat die interfraktionelle Gruppe Pränataldiagnostik, die sich seit Jahren mit den ethischen Implikationen des NIPT beschäftigt, jetzt auch in den Bundestag eingebracht.

Das ist ein Skandal, finde ich. Corinna Rüffer von den Grünen hatte es vorausgesagt: Wenn der vorgeburtliche Bluttest auf Trisomie 13, 18 und 21 erst einmal Kassenleistung sei, dann würde er massenhaft eingesetzt. Eben nicht nur bei Schwangeren mit einem begründeten Verdacht auf eine kindliche Gen-Anomalie.

Mehr (hinter einer Bezahlschranke): www.welt.de.

Dürfen wir Martin Luther King Jr. kritisieren?

Justin Giboney hat in einem jüngst veröffentlichten Artikel Martin Luther King Jr. (MLK) gegenüber dem Vorwurf verteidigt, seine Theologie stünde nicht in der Tradition eines bekenntnistreuen christlichen Glaubens. Hintergrund seiner Apologie ist eine Aussage von John MacArthur, der Zweifel daran äußerte, dass King überhaupt Christ gewesen sei. MacArthur kritisierte in diesem Zusammenhang auch eine Konferenz der The Gospel Coalition zu Ehren von MLK (die MLK50-Konferenz 2018).

Giboney, der zu den Rednern dieser – in der Tat ambivalenten – MLK50-Konferenz gehörte, schreibt in seinem CT-Artikel

MacArthur mag mit einigen von Kings frühen theologischen Arbeiten nicht einverstanden sein, die die christliche Lehre in Frage stellten. Wie Mika Edmondson – selbst Pfarrer und systematischer Theologe – jedoch einsichtig erklärte, „spiegeln Kings frühe Seminararbeiten nicht seine endgültige, voll ausgebildete Theologie wider“. Ähnlich wie Abraham Kuyper und Dietrich Bonhoeffer rang King mit dem theologischen Liberalismus, schien aber später „zum Glauben seiner konservativen schwarz-baptistischen Erziehung zurückzukehren“.

Und man beachte, wie Edmondson auch erwähnt, dass Kuypers und Bonhoeffers Heil nie in Frage gestellt wird. „Ihnen wird der Vorteil des Zweifels zugestanden.“ Warum wird bei King ein anderer Maßstab angelegt? Selbst Theologen, die Sklavenhalter waren, werden in manchen christlichen Kreisen weniger kritisch betrachtet als King.

Ich finde den Vergleich Giboneys bzw. Edmondsons bemerkenswert. Wir wissen nicht nur aus den frühen Seminararbeiten von Martin Luther King Jr., dass er als Student sehr angetan von der liberalen Theologie und der deutschen Theologie des 20. Jahrhundert war (interessanterweise Tillich und Barth zugleich). Es gibt eindeutige Belege dafür, dass er nicht an die Jungfrauengeburt und die Auferstehung glaubte (siehe seine Ausarbeitung: The Humanity and Divinity of Jesus, 1949). Zur Frage der Göttlichkeit Jesu schrieb er ganz als Schleiermacherianer (ebd.):

Wo also können wir in der liberalen Tradition die göttliche Dimension in Jesus finden? Wir können die Göttlichkeit Christi nicht in seiner substantiellen Einheit mit Gott finden, sondern in seinem kindlichen Bewusstsein und in seiner einzigartigen Abhängigkeit von Gott. Es war sein Gefühl der absoluten Abhängigkeit von Gott, wie Schleiermacher sagen würde, das ihn göttlich machte. Ja, es war die Warmherzigkeit seiner Hingabe an Gott und die Innigkeit seines Vertrauens in Gott, die ihn zur höchsten Offenbarung Gottes ist. All dies zeigt uns, dass ein Mann endlich seine wahre göttliche Berufung erkannt hat: Ein wahrer Sohn des Menschen zu werden, indem er indem er ein wahrer Sohn Gottes wird. Es ist die Leistung eines Mannes, der, soweit wir das beurteilen können, sein Leben vollständig für den Einfluss des des göttlichen Geistes geöffnet hat.

An anderer Stelle behauptete King (The Sources of Fundamentalism and Liberalism Considered Historically and Psychologically, 1949):

Wenn der Fundamentalist über das Wesen des Menschen nachdenkt, findet er alle Antworten in der Bibel. Die Geschichte des Menschen im Garten Eden gibt eine schlüssige Antwort. Der Mensch wurde durch einen direkten Akt Gottes geschaffen. Außerdem wurde er nach dem Bilde Gottes geschaffen, aber durch das Wirken des Teufels wurde der Mensch zum Ungehorsam verleitet. Damit begannen alle menschlichen Übel: Mühsal und Arbeit, die Qualen der Geburt, Hass, Kummer, Leid und Tod. Der Fundamentalist ist sich der Tatsache bewusst, dass Gelehrte den Garten Eden, die Schlange, Satan und die Feuerhölle als Mythen betrachten, die denen anderer orientalischer Religionen entsprechen. Er weiß auch, dass sein Glaube von vielen mit Spott bedacht wird. Aber das erschüttert seinen Glauben nicht – es überzeugt ihn vielmehr von der Existenz des Teufels. Die Kritiker, sagt der Fundamentalist, würden sich nie auf solch skeptisches Denken einlassen, wenn der Teufel sie nicht beeinflusst hätte. Der Fundamentalist ist überzeugt, dass diese Skepsis der Gelehrten und der billige Humor der Laien die Offenbarung Gottes keineswegs verhindern können.

Andere Lehren wie ein übernatürlicher Heilsplan, die Dreieinigkeit, die stellvertretende Sühnetheorie und das zweite Kommen Christi sind im fundamentalistischen Denken sehr präsent. Diese Ansichten des Fundamentalisten zeigen, dass er gegen eine theologische Anpassung an den sozialen und kulturellen Wandel ist. Er sieht ein fortschrittliches wissenschaftliches Zeitalter als ein rückschrittliches geistliches Zeitalter. Inmitten des Wandels ist er bereit, bestimmte alte Ideen zu bewahren, auch wenn sie im Widerspruch zur Wissenschaft stehen.

Es wird viel darüber diskutiert, ob er seine Sichtweise später geändert hat. Entsprechende „Bekehrungstexte“ sind mir bisher nicht in die Hände gekommen. Und leider liefert auch Justin Giboney keinen Beleg dafür, dass King seine Sicht später grundlegend änderte.

Historisch bewiesen ist, dass auch der reife MLK 1958 Harry Emerson Fosdick, den prominenten Botschafter des liberalen Christentums, als größten Prediger und Propheten seiner Generation bezeichnete (siehe dazu hier).

Übrigens: Justin Giboney beruft sich in seinem Artikel ironischerweise genau auf jene Gamaliel-Strategie, mit der auch Fosdick im Jahr 1922 in seiner Predigt vor den Fundamentalisten gewarnt hatte. 

Was mir noch auf dem Herzen liegt: Man darf Martin Luther King Jr. theologisch kritisch bewerten und dennoch seinen gewaltfreien Einsatz gegen den Rassismus würdigen. Ich kann Mahatma Gandhis gewaltfreie Strategie im Kampf gegen das Kastenwesen schätzen, ohne zu behaupten, er wäre dabei christlicher Friedensethiker gewesen. Die große Schwäche von Giboneys Artikel ist, dass seiner Meinung nach das politische Handeln von Personen ihre theologische Positionen markiert. Korrelationen, die es zwischen diesen zwei Bereichen geben mag und geben darf, entscheiden nicht über die Qualität theologischer Urteilsfähigkeit.

Wann beginnt mein Recht auf Leben?

In seinem Buch A Defense of Abortion schreibt der an der University of Colorado lehrende Philosophieprofessor David Boonin, dass „ein Fötus im Grunde einfach nur ein menschliches Wesen in einem sehr frühen Stadium seiner Entwicklung“ sei. Er erkennt also an, dass ein Mensch mit dem Embryo/Fötus, der man einmal war, identisch ist. Trotzdem verteidigt er das Recht auf Abtreibung.

Scott Klusendorf hat sich seine Argumentation und die Einwände seiner Gegner genau angesehen und schreibt: 

Es genügt nicht, ein Mensch zu sein, so Boonin, um daraus ein Recht auf Leben abzuleiten. Konkret erklärt er: „Die Tatsache, dass ein menschlicher Fötus zur selben Spezies gehört wie Sie und ich, kann kein Argument sein, ihm dasselbe Recht auf Leben wie Ihnen und mir zuzusprechen.“ Der intrinsische Wert eines Menschen ist nach Boonins Definition eine zufällige Eigenschaft, die ein Fötus erst im späteren Verlauf der Schwangerschaft erwirbt, nämlich nachdem eine organisierte kortikale Hirnaktivität vorhanden ist, die zum aktuellen Zeitpunkt ein Verlangen nach etwas ermöglicht – was laut Boonin zwischen fünfundzwanzig und zweiunddreißig Wochen nach der Empfängnis der Fall ist. Nur ein gegenwärtiges Verlangen, kein zukünftiges, verleihe Wert und begründe ein Recht auf Leben. Da ein Fötus im frühen Stadium kein gegenwärtiges Verlangen hat, habe er auch kein Recht auf Leben.

Kurz gesagt, der Mensch ist zwar ab einem bestimmten Zeitpunkt existent, aber er wird erst zu einem späteren Zeitpunkt in dem Sinne intrinsisch wertvoll, dass er Subjekt von Rechten wird. Bis dahin mag die Abtreibung moralisch kritisierbar sein, nicht aber moralisch unzulässig.

Mehr: www.evangelium21.net.

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Judith Butler dekonstruiert die Ereignisse des 7. Oktobers 2023

Judith Butler erklärt das Hamas-Massaker zum Widerstandsakt im Freiheitskampf. Die Taten des 7. Oktober seien weder terroristisch noch antisemitisch gewesen. Sie dekonstruiert und konstruiert sich ihre eigene Wirklichkeit. 

Jürgen Kaube kritisiert Butler scharft:

Butler spuckt auf Gräber, über die sie vorschlägt, ein Seminar zu Wertungsgesichtspunkten bei Abschlachtungen abzuhalten. 1927 hatte Julien Benda vom „Verrat der Intellektuellen“ geschrieben, als er die Bereitschaft der Extremisten diagnostizierte, ihren Geist dem nationalistischen oder internationalistischen Furor zu unterwerfen. Der Intellekt, so seine Analyse, verschafft sich das Gefühl politisch zu sein durch die Übernahme der Blindheiten, die mit politischen Feinderklärungen einhergehen. Right or wrong, my country. Right or wrong, my party. Wir werden gerade Zeuge eines wiederholten Verrats dieser Art, und es spielt keine Rolle, dass er diesmal in der selbstgerechten Stimmung begangenen wird, ganz arg links und global zu sein.

Judith Butler hat sich jüngst darüber heftig beklagt, in Deutschland nicht mehr auftreten zu können, weil der Sonderweg dieses Landes in Bezug auf Israel – Stichwort „Staatsräson“ – jede Diskussion verhindere. Natürlich, sie ist ein Opfer. Tatsächlich sind ihre Thesen, siehe oben, so krude, dass es zugleich ganz leicht und ganz schwer wäre, über sie zu diskutieren. Butler ist es, verwöhnt durch Einladungen und Anhängerschaften weltweit, aber nicht mehr gewohnt, dass jemand dem Unfug scharf widerspricht, den sie verzapft.

Mehr: www.faz.net.

Wie würde Kant Spaghetti zubereiten?

Jürgen Kaube zeigt anhand des Kant-Jahres, wie sehr das Denk-Niveau in der Postmoderne gesunken ist: 

Wir befinden uns im Kant-Jahr. Der Philosoph ist am 22. April vor dreihundert Jahren geboren worden. Das motiviert nicht nur zu Jubelfeiern, sondern zu allerlei Fragen, was sein Werk uns heute noch bedeutet. Die umgekehrte Frage, ob wir uns vor ihm sehen lassen können, wird weniger oft gestellt. Stattdessen wird gefragt, etwa auf „Zeit“-Online, ob Kant heute twittern würde. Ob er uns bei dem ganzen Ärger mit der Künstlichen Intelligenz helfen könnte. Ob er ein echter Aufklärer war. Der Maßstab für echte Aufklärer sind dann natürlich wir selbst.

Man könnte in diesem Stil auch fragen, wie Kant Spaghetti Carbonara zubereitet haben würde, wie er sich in Diskotheken verhalten hätte, was ihm zum Lohnabstandsgebot in der Sozialpolitik eingefallen wäre und ob ihm das Widerstandsrecht der Ukraine hätte einen Aufsatz entlocken können. Man muss diesen Umgang mit ihm wohl einerseits Ausschlachten nennen. Und andererseits Angeberei, denn es werden vollmundig Fragen beantwortet, ohne dass es dafür die mindeste Grundlage gäbe.

Daran beteiligen sich auch Philosophen, die man fragen möchte, ob sie es denn moralisch vertretbar oder mit ihrer Würde vereinbar finden, bei einem derartigen Unfug mitzutun. Kant hätte ihnen die Kennzeichnung, „Grillenfänger“ zu sein, „Windbeutel“ und „Klüglinge“, kaum erspart.

Mehr: www.faz.net.

Kultur des Todes (21): Frankreich verankert Recht auf Abtreibung in Verfassung

Das Recht auf Abtreibung wird künftig in der französischen Verfassung verankert. Die dafür nötige Drei-Fünftel-Mehrheit wurde laut FAZ am Montag in Versailles bei einer Sitzung beider Parlamentskammern erreicht. Nur 72 Abgeordnete stimmten dagegen, 780 dafür. 50 Parlamentarier enthielten sich der Stimme. Premierminister Gabriel Attal sprach von einer „moralischen Schuld“ gegenüber allen Frauen, die gelitten hätten:

Uns verfolgen das Leiden und die Erinnerung an so viele und so viele Frauen, die jahrzehntelang darunter gelitten haben, nicht frei sein zu können“, sagte er und freute sich über den „erfolgreichen Abschluss eines langen Kampfes“.

An die Freiheit und den Schutz der ungeborenen Kinder denkt keiner. Das schreit zum Himmel und zeigt, wohin die Reise in Europa nach der Säkularisierung geht. Präsident Emmanuel Macron schrieb auf der Plattform X: „Frankreichs Stolz. Universelle Botschaft.“ Jetzt wird angestrebt, in der EU weiterzumachen

Es gibt weiterhin Bestrebungen, das aus französischer Sicht „universelle“ Frauenrecht auch in der EU zu verankern. „Die nächste Etappe wird sein, diese Freiheit in der Grundrechtecharta der EU einzuschreiben, wie Frankreich es im Januar 2022 vorgeschlagen hat“, schrieb der frühere Europaminister Clément Beaune.

Aktualisiert am 05.03.2024, 14:37 Uhr.

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Unsere Ersatzgötter

Folgendes Zitat habe ich bei der Psychotherapeutin Helga Lemke gefunden (Seelsorgerliche Gesprächsfindung, 1992, S.19): 

Mit dem Verlust des Glaubens an einen lebendigen Gott ist zugleich auch die Möglichkeit verlorengegangen, ein Urvertrauen entwickeln zu können. Das ist aber nach Erik Erikson eine der Voraussetzungen für die gesunde Entfaltung der Persönlichkeit. Ohne das Wissen um und die Erfahrung von Geborgenheit ist der Mensch existentiellen Ängsten preisgegeben, die zu erheblicher Beeinträchtigung seines psychischen Befindens führen können. „Wir leben in einer säkularisierten Welt, in der die Folgen der allgemeinen Gottlosigkeit einen Teil der Menschen regelrecht krank machen.“ Der Mensch ist insofern genötigt, die entstandene Leere und Einsamkeit zu füllen und sich Ersatzgötter zu schaffen, die die Funktion einer höheren Macht erfüllen sollen. Das mag u.a. auch erklären, warum bestimmte Werte oder auch Ideologien einen immer stärkeren Absolutheitsanspruch erheben und mit starken Machtprivilegien ausgerüstet sind – werden doch an sie fast göttlich zu nennende Ansprüche gestellt bis hin zu paradiesischen Erwartungen: Sicherheit, Geborgenheit und Frieden zu gewährleisten.

Die Gemeinde als Gegenkultur

Die Ortsgemeinde war nie dafür gedacht, ein gemütlicher Ort zu sein.  Im Gegenteil, sie sollte Heimat einer Gegenkultur sein, die eine radikal andere Vision für das menschliche Aufblühen verkörpert als die allgemeine Gesellschaft. Brett McCracken schreibt in „Die Gemeinde als Gegenkultur“:

Hatte Nietzsche also recht, wenn er das Christentum „die Religion der Bequemlichkeit“ nannte? Traf es zu, wenn er das Christentum als ein unmutiges, bequemes System ansah, um den Schwierigkeiten des Lebens und den Grausamkeiten der Natur zu entkommen?

Sicherlich müssen wir zugeben, dass das Christentum zu vielen Zeiten und an vielen Orten in der Geschichte – wie in Nietzsches Zeit, dem Europa des 19. Jahrhunderts – eher bequem, unmutig und nicht bereit war, den kostspieligen Ruf Jesu Christi wirklich anzunehmen. Und für viele in der Kirche heute ist das Christentum tatsächlich eine Religion der Flucht und Bequemlichkeit, ein Glaube, der nicht viel verlangt und nichts kostet. Es ist eine Religion des moralistisch-therapeutischen Deismus. In diesem Sinne ist Nietzsches Kritik vielleicht richtig.

Aber Nietzsche hatte unrecht, wenn er behauptete, dass das Christentum von Natur aus etwas Bequemes habe und dass das Christentum in seinem Wesen ein komfortables, unaufrichtiges Trostsystem für die Schwachen dieser Welt sei.

Das ist offenkundig nicht wahr. In meinem kürzlich erschienenen Buch Uncomfortable: The Awkward and Essential Challenge of Christian Community (dt. „Die unbequeme und unverzichtbare Herausforderung der christlichen Gemeinschaft“) beschreibe ich detailliert die essentielle Unbequemlichkeit des Christentums, sowohl in dem, was es behauptet und wir glauben sollen, als auch (und vielleicht besonders) in der Art und Weise, wie es uns auffordert, als Ortsgemeinde zusammenzuleben und zu funktionieren.

Die Ortsgemeinde war nie als kultureller, bequemer bürgerlicher Club gedacht, der die Menschen in ihrem Götzendienst bestätigt und ihnen dazu verhilft, ihr „bestes Leben“ jetzt zu leben. Im Gegenteil, sie sollte eine Gegenkultur sein, eine abgesonderte Gemeinschaft, die eine radikal andere Vision für das menschliche Aufblühen verkörpert.

Mehr hier: www.evangelium21.net.

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Die Dreiteilung des alttestamentlichen Gesetzes

Die klassische Dreiteilung des alttestamentlichen Gesetzes wird heute von vielen Theologen abgelehnt, mitunter auch von jenen, die in der Tradition der reformierten Theologie stehen. Zumindest sind viele gegenüber dieser Unterscheidung misstrausch.

Um ein Beispiel zu nennen: D.A. Carson hält es für möglich, dass sich die Kategorien Moralrecht, Zivilrecht und Zeremonialgesetz aus der Schrift entwickeln lassen – auch wenn sie dort nicht ausdrücklich gelehrt werden. Aber diese Unterscheidung ist problematisch, wenn wir sie a priori in die Schrift eintragen. Er schreibt („Mystery and Fulfillment: Toward a More Comprehensive Paradigm of Paul’s Understanding of the Old and the New“, in: P.T. O’Brien u. M.A. Seifrid (Hrsg.), Justification and Variegated Nomism: The Paradoxes of Paul, Bd. 2, Baker Academic; Tübingen: Mohr Siebeck u. Grand Rapids, MI: Baker Academics, 2004, S. 429):

Kurz gesagt, das Problem mit der Dreiteilung des Gesetzes, die als Mittel zur Erklärung von Kontinuität und Diskontinuität zwischen den Testamenten auf Thomas von Aquin zurückgeht, besteht darin, dass sie versucht, ein apriorisches Raster zu konstruieren, um herauszufinden, welche Teile des Gesetzes Christen halten oder tun müssen, und dass sie davon ausgeht, dass Paulus ein solches Raster übernommen haben muss, auch wenn er es nicht ausdrücklich nennt. Wenn wir uns stattdessen in dieser Hinsicht enger an die paulinische Terminologie halten, können wir immer noch sinnvollerweise von der Dreiteilung aus einer a posteriori-Perspektive sprechen: Nachdem wir die Muster von Kontinuitäten und Diskontinuitäten, die Paulus aufstellt, beobachtet haben, können jene Gesetze des alten Bundes, die Christen in einer Weise „erfüllen“, die ihrer Funktion innerhalb des alten Bundes am ehesten entspricht, sicher als „moralisch“ bezeichnet werden, ohne zu befürchten, dass eine a priori-Definition Paulus‘ Denken domestiziert.

Das Buch From the Finger of God: The Biblical and Theological Basis for the Threefold Division of the Law von Philip S. Ross untersucht die biblische und theologische Grundlage für die klassische Unterteilung des alttestamentlichen Gesetzes. Es beleuchtet einige der Auswirkungen dieser Unterteilung auf die Lehre von der Sünde und der Sühne und kommt zu dem Schluss, dass die Theologen diese Unterteilung zu Recht als in der Heiligen Schrift verwurzelt und die Zehn Gebote als ewig verbindlich ansahen.

Auch für jene, die die Dreiteilung ablehnen, liefert das Buch eine solide Darstellung und Erklärung der alten Differenzierung. Es verfolgt die Spuren nicht nur zurück bis zu den Kirchenvätern, sondern sucht schon im Judentum nach Indizien und macht dafür Anleihen bei den Untersuchungen von Walter Kaiser (S. 20): 

Kaiser weist darauf hin, dass die Suche nach den Ursprüngen der Dreiteilung, die bei den Kirchenvätern endet, nicht weit genug zurückreicht. Obwohl er nicht behauptet, dass sie von den Rabbinern stammt, zitiert er Montefiores und Dalmans Zeugnis über die Unterscheidung zwischen „schweren“ und „leichten“ Geboten durch die Rabbiner.

Wenn Montefiore recht hat, kannten die Rabbiner die Unterscheidung zwischen zeremoniellen und moralischen Geboten, und im Großen und Ganzen betrachteten sie die „moralischen“ als wichtiger und grundlegender als die „zeremoniellen“ – sie akzeptierten eine Zweiteilung. Dies mag den Grundstein für den von einigen Kirchenvätern bevorzugten Ansatz gelegt haben, und in späteren Kapiteln wird sich zeigen, dass der Vorrang des „moralischen“ Gesetzes eine fest etablierte Ansicht war.

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Rechtes Christentum

Der kanadische Religionsphilosoph Charles Taylor hat in seinem Buch Das säkulare Zeitalter den Begriff „Soziales Vorstellungsschema“ entwickelt. Er beschreibt damit Überzeugungen, Verhaltensweisen, normativen Erwartungen und unbewussten Annahmen, die Angehörige einer Gesellschaft teilen und die ihren Alltag prägen. Zusammengefasst ist das soziale Vorstellungsschema die Art und Weise, wie Menschen sich die Welt vorstellen und intuitiv in ihr handeln.

Wie deutlich sich das Soziale Vorstellungsschema in den letzten Jahren auch in kirchlichen Kreisen gewandelt hat, offenbart ein frischer Text aus der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). Martin Fritz geht dort der Frage nach, was „rechte Christen“ sind und wie man mit ihnen umgehen soll. Kurz: Wer die Sexuelle Revolution für eine Fehlentwicklung hält, wer für das Lebensrecht eintritt, wer gelebte Homosexualität nicht bejaht, wer die Verflüssigung von Geschlechtszuschreibungen und Geschlechterrollen (vgl. Judith Butler) ablehnt, ist laut Fritz im Netz einer rechtschristlichen Anti-Haltung gefangen. Wörtlich schreibt er:

Die Basis rechtschristlicher Anti-Haltung ist ein umfassendes Krisenbewusstsein. Die Protagonisten leiden an den kulturellen Wandlungen, die sie oftmals mit dem Symboljahr „1968“ verbinden und als allgemeinen „Linksruck“ beschreiben. Sexuelle Revolution, Straffreiheit von Abtreibung, Legalisierung und Akzeptanz der Homosexualität (bis hin zur „Homo-Ehe“), Verflüssigung von Geschlechtszuschreibungen und Geschlechterrollen („Genderismus“) – der Umbruch in diesen sexual- und genderethischen Fragen wird von vielen als „Kulturbruch“ empfunden. Hinzu kommen die ethnisch-kulturellen Verschiebungen durch die „Masseneinwanderung“, gerade aus mehrheitlich muslimischen Ländern, aber auch die Transformationswirkungen von globalisiertem Kapitalismus und technischem Fortschritt, die in der Wahrnehmung vieler eine geistentleerte Kultur der Zerstreuung und des Konsumismus hervorgebracht haben. Die öffentlich und mit Nachdruck erhobenen Forderungen radikalen Umdenkens und Umsteuerns in Fragen der Vergangenheitsaufarbeitung und Diskriminierungsprävention (Postkolonialismus, „Wokismus“, Gendersprache) sowie des Umwelt- und Klimaschutzes („Ökologismus“) werden schließlich von nicht wenigen als bedrohliche Eingriffe in ihre bewährten Selbstverständnisse und Lebensgewohnheiten erlebt.

Nun enthalten diese Behauptungen ja nichts Neues. Bezeichnend für den Wandel des Soziales Vorstellungsschemas ist die Tatsache, dass diese Zuschreibungen, die wir seit Jahren aus der FRANKFURTER RUNDSCHAU oder TAZ kennen, aus der EZW stammen.

Die EZW ist die Nachfolgeorganisation der Apologetischen Centrale, die nach dem Ersten Weltkrieg durch Innere Mission in Berlin gegründet wurde. Geleitet wurde sie viele Jahre von Walter Künneth (1901–1997). Künneth hat den Einsatz für das Lebensrecht, die historische christliche Sexualethik und die binäre Geschlechterordnung als wesensmäßig für den christlichen Glauben verstanden. Auch wenn er Vorbehalte gegenüber den Ideen einer „Schöpfungsordnung“ oder dem „Naturrecht“ hegte (weil er hier die Auswirkungen der Sünde zu wenig berücksichtigt fand), trat er doch entschieden für eine göttliche „Erhaltungsordnung“ ein, die der Kirche in der Botschaft der Heiligen Schrift anvertraut ist.

Aus der Sicht von Martin Fritz sind „ordnungstheologische Figuren“, egal, wie sie letztlich genannt werden, bereits Kennzeichen eines „rechten Christseins“ und damit Verirrungen. Es werden weltliche Vorstellungsschemata herangezogen, um christliches Denken und Leben zu dekonstruieren.

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