Kierkegaards Sprung (Teil 4)

Die drei Ebenen des Glaubens

Betrachten wir das Problem einmal mit Hilfe der aus der lutheri­schen Orthodoxie stammenden Unterscheidung zwischen drei Ebe­nen des Glaubens (vgl. Abb. 2).

Die erste Ebene ist notitia, die Kenntnis eines Glaubensinhaltes. Wir können solche Inhalte auch Propositionen nennen. Propositionen sind Objekte mentaler Aktivitäten wie Wollen, Glauben oder Hoffen. Sätze oder Aussagen mit propositionalem Gehalt sind prüfbar, kön­nen war oder falsch sein. Die Apostel unterschieden zwischen wah­ren und falschen Glaubensinhalten, zwischen ungesunden Lehren und der heilsamen Lehre (vgl. Röm 16,17). Eine falsche Lehre steht im Widerspruch zu dem, was Gott will und offenbart hat. Die Apostel verkündigten die Lehre des Christus, (2Joh 10), die scharf gegenüber fremden Lehren abgegrenzt werden kann (vgl. Hebr 13,9). Sie waren beispielsweise davon überzeugt, dass der Gott, dem sie sich anvertraut haben, nicht lügt (vgl. Tit 1,2 u. Hebr 6,18) oder Je­sus Christus im Fleisch gekommen ist (2Joh 9). Menschen, die diese Propositionen ablehnten, waren in ihren Augen falsche Propheten.

Drei Ebenen des Glaubens

Abbildung 2: Die drei Ebenen des Glaubens aus Sicht der lutherischen Orthodoxie.

Die zweite Ebene des Glaubens ist assensus, die Bejahung oder Annahme be­stimmter Glaubensinhalte. Jemand, der einem Sachverhalt zu­stimmt, bekundet sein Interesse und Einverständnis mit dem, was er sachlich wahrgenommen hat. Stellen wir uns vor, wir interessierten uns für die Frage, ob Jesus Christus tatsächlich gelebt habe. Wir würden geschichtliche, kritische und apologetische Bücher studieren, die sich mit der Frage des historischen Jesus befassen. Irgendwann formulierten wir dann ein Ergebnis unserer Untersuchungen. Das, was wir als Resultat unserer Bemühungen präsentierten, und sei es das zurückhaltende Bekenntnis »Wir können nichts genaues dazu sagen!«, fände unsere Zustimmung. Wir hielten das, was wir ausgearbeitet hätten, für annehmbar und vertrauenswürdig.

Die dritte Ebene, fiducia, ist das Gottvertrauen, der persönlich ge­lebte Glaube. Kierkegaard, der täglich in Kopenhagen ein Christen­tum ohne fiducia wahrnahm, verlagerte den Glauben ganz in den Be­reich des Vertrauens oder Gehorsams. Doch keine der drei Ebenen des Glaubens darf fehlen. »Man kann Gott nicht anerkennen (= assen­sus), ohne ihn zu kennen (= notitia). Man kann Gott nicht vertrauen (= fiducia), ohne ihn anzuerkennen (= assensus). Oder man könnte auch sagen: Das (Gott)Gehören (= fiducia) setzt ein Gehorchen (= as­sensus), das Gehorchen ein Anhören (= notitia) voraus.« Der Gläu­bige soll nicht glauben, weil er Ungewusstes und Unverstandenes auf die Autorität der Kirche hin glaubt, sondern weil er sich darüber klar ist, woran er glaubt.

Die existentielle Dimension des Glaubens ist eminent wichtig. Aber Leidenschaft ohne Rückbezug auf eine über- und durchdenkbare propositionale Lehrbasis kann auch die Unwahrheit sein. Wer möchte dem Selbstmordattentäter, der im Getümmel eines Marktplatzes lächelnd eine Bombe zündet, die Leidenschaft absprechen? Kierkegaard schreibt: »Der einzige wahre Ausdruck dafür, dass es noch etwas Absolutes gibt, ist, dessen Märtyrer oder Märtyrer dafür zu werden.«

Kierkegaards Wahrheitsbegriff hat viel gemein mit dem, was wir Wahrhaftigkeit nennen. Er beharrt auf Leidenschaft, die sich entwickeln kann, wenn innere Überzeugungen eines Menschen mit dem kongruieren, was er sagt und tut. Diese eingeforderte Wahrhaftigkeit bleibt auch heute eine leider zu oft uneingelöste Herausforderung für Christen. Aber innere Überzeugung ist nicht selbst Kriterium der Wahrheit von Aussagen. Sie kann nur dort An­rede Gottes sein, wo sie sich auf propositionalen Offenbarung Gottes beruft. Kierkegaards Sprung vom fides quae in den Raum des fides qua verkürzt den von den Aposteln überlieferten Glaubensbegriff auf verhängnisvolle Weise. Er koppelt den Vollzug des Glaubens vom Inhalt ab.

Sprung des Glaubens bei Kierkegaard

Abbildung 3: Kierkegaard isoliert den leidenschaftlichen Glaubensvollzug vom Glauben, der geglaubt wird.

Das Christentum ist Existenz-Mitteilung, nicht propositionale Lehre, die verstanden oder begriffen werden soll oder will, da »es keinen direkten Übergang von der Einleitung zum Christwerden gibt, sondern das Christwerden im Gegenteil der qualitative Sprung ist«. Die Konfrontation mit dem absoluten Paradox soll dem Menschen jede Möglichkeit nehmen, sich mit Erklärungen einer notwendigen Entscheidung zu entziehen.

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7 Kommentare
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14 Jahre zuvor

Spricht das Märtyrer-Beispiel nicht eher FÜR Kierkegaards Glaubensbegriff? Ja, so ist Glauben, phänomenologisch haut das sehr gut hin.
Die Kritik hingegen scheint mir davon auszugehen, dass man objektiv entscheiden könne, welcher Glaubensinhalt der richtige sei – so als könne man sich außerhalb der „fiducia“ (korrespondierend zur Offenbarung) stellen und entscheiden, welche „notitia“ die richtige sei?

14 Jahre zuvor

Aber wie sollte denn eine „fudicia“ zu verstehen sein, die gar keinen Inhalt hat? „fiducia“ bedeutet ZUtrauen zu, ist mithin ein intentionaler Begriff und kann per se nicht von einem Inhalt getrennt werden. Mein Einndruck ist deshalb, dass sich die lutherisch-orthodoxe Dreiteilung nicht auf Kierkegaards Glaubensbegriff übertragen lässt: Fiducia ohne jeden Inhalt ist schlechthin ein sinnloser Begriff.
Im Übrigen halte ich den existentialistischen Glaubensbegriff auch für nicht unproblematisch, denke aber eben nicht, dass er sich in der Fronststellung zum orthodoxen Dreischritt schlicht als Auslassung der ersten beiden Schritte beschreiben lässt.

14 Jahre zuvor

OK, ich verstehe. Aber würdest du sagen, dass Sündenvergebung ein objektiv einsehbares Faktum ist? Oder die Auferstehung als solches in der Bibel beschrieben wird?

14 Jahre zuvor

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